Zusammen in Bewegung

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Vorsichtig rückt Klaus Branahl das Becken von Roman Muchamedshin im Rollstuhl nach vorne und streckt ihm anschließend auffordernd seine Hände entgegen: „Dann wollen wir dich mal ins Bett legen“, sagt der Gesundheits- und Krankenpfleger. Doch Roman Muchamedshin ist zu Späßen aufgelegt und tut so als sehe er die Geste nicht. „Na, heute keine Lust, mitzumachen?“, fragt Klaus Branahl neckend. Sein Gegenüber beantwortet die Frage mit einem breiten Grinsen und greift dann doch nach den entgegenkommenden Händen.

Langsam rutscht Roman Muchamedshin auf den Oberschenkel des Gesundheits- und Krankenpflegers, der neben ihm auf dem heruntergefahrenen Pflegebett sitzt. Mit sanften, fließenden Bewegungen, die fast ohne Kraft auskommen und gestützt werden durch die eigenen Körper, drehen sich die beiden Männer gemeinsam über Klaus Branahls Schulter und Roman Muchamedshin kommt sanft in seinem Bett zum Liegen.

Vorhandene Ressourcen nutzen

Was so einfach aussieht, ist ein komplexer Handlungsablauf, der sich nach kinästhetischen Prinzipien abspielt und aus vielen kleinen Einzelschritte besteht, die erlernt und eingeübt werden. Zunächst erfolgt eine Analyse der vorhandenen Ressourcen eines Menschen. „Jeder Mensch mit seinen Bewegungsmöglichkeiten wird individuell betrachtet. Wir setzen nicht über Defizite an, sondern schauen viel mehr, was der Mensch einbringen kann: Welche Körpermassen kann er einsetzen? Wie viel Eigenbewegung ist vorhanden? Auf welche Impulse reagiert die Person? Gemeinsam wird geschaut, was möglich ist. Im Mittelpunkt stehen dabei meist Alltagsabläufe, bei denen durch Kinästhetik die Eigenaktivität des Menschen mit Beeinträchtigung gefördert und gesteigert wird“, erklärt Diakon Michael Lilienkamp, der anerkannter Kinästhetik- Trainer ist. Klassische Situationen seien etwa die tägliche Körperhygiene aber auch der Wechsel vom Sitzen im Rollstuhl zum Liegen im Bett und andersherum.

Klaus Branahl und Roman Muchamedshin sind in diesen Situationen schon ein eingespieltes Team. Trotzdem gibt es immer wieder Handlungsbedarf. „Roman ist größer und somit auch schwerer geworden. Das Team hat daher die Beratung durch Michael Lilienkamp eingefordert, um neue kinästhetische Möglichkeiten zu betrachten“, sagt Matthias Mank, seit 2016 zuständige Bereichsleitung für das Haus Flensburg im Kinder- und Jugendbereich in Volmerdingsen. Dort lebt Roman Muchamedshin.

An diesem Tag hat Michael Lilienkamp noch einige Tipps für Klaus Branahl. „Es sind viele Kleinigkeiten, auf die geachtet werden muss. Im Alltag schleichen sich Routinen ein, die nicht mehr kinästhetisch sind. Achte doch mehr auf Romans Becken. Bewege es noch ein Stück nach vorne, dann gleitet er leichter auf deinen Oberschenkel. Fahre das Kopfteil des Bettes noch etwas hoch und dreht euch langsamer über die Schulter ein. So ist das Hinlegen nicht so schwungvoll“, sagt der erfahrene Kinästhetik-Trainer, der sich über fünf Jahre ausbilden ließ, um andere zu schulen.

Kinästhetik war ein Paradigmenwechsel

Seit 15 Jahren ist er in der gesamten Stiftung unterwegs, gibt Fortbildung für die Mitarbeitenden und berät Teams, wie sie die Betreuung einzelner Klienten und Klientinnen nach kinästhetischen Gesichtspunkten ausrichten können. „2008 wurde das Prinzip der Kinästhetik durch ein Projekt in der Stiftung eingeführt. Zwar gab es hier schon Mitte der 1990er Jahre ähnliche Ansätze, bei denen es aber hauptsächlich um rückenschonendes Arbeiten für die Mitarbeitenden ging“, erinnert sich der Diakon.

„Bis etwa 2000 wurden alle Kinder und Jugendlichen getragen und gehoben, wenn es um Orts- und Positionswechsel ging. Das ging an die Substanz“, berichtet Matthias Mank, der seit 1999 Jahren im Wittekindshofer Kinder- und Jugendbereich tätig ist, und bereits am Projekt teilnahm. „Dann wurde ein Lifter in der damaligen Kinderheimat angeschafft, der den Mitarbeitenden zunächst Erleichterung verschaffte“, blickt der Bereichsleiter zurück. „Kinästhetik war dann ein Paradigmenwechsel. Weg vom Heben und Tragen hin zur gemeinsamen Bewegung.“

Teil des Arbeitsalltags

Dass Kinästhetik viel mehr als nur eine Entlastung für die Pflegenden ist, sondern gemeinsames Lernen und Entwickeln von Bewegungsabläufen, die auf die individuellen Fähigkeiten der zu pflegenden Person abgestimmt sind und somit Entwicklungen fördern, rückte dann mit dem Projekt in den Fokus. Umgesetzt wurde es in den Wohnbereichen, in denen insbesondere schwerstmehrfachbeeinträchtigte Menschen leben, die auf umfangreiche Unterstützung in allen Lebensbereichen angewiesen sind, so etwa der Kinder- und Jugendbereich. „Seitdem ist Kinästhetik immer Thema im Arbeitsalltag. Mal mehr, mal weniger. Denn im Laufe der Jahre hat es sich verselbstständigt. Die Kolleginnen und Kollegen wenden kinästhetische Methoden ganz selbstverständlich im Alltag an. Wenn neue Bewohner und Bewohnerinnen einziehen, holen wir Michael Lilienkamp hinzu, um gemeinsam vorhandene Bewegungsmöglichkeiten zu entdecken und unter seiner Anleitung sinnvolle Unterstützungsmöglichkeiten zu entwickeln“, sagt Matthias Mank.

Aber auch neue Mitarbeitende erhalten Fortbildungen, wenn sie noch keine Erfahrungen mit Kinästhetik haben. „Viele stellen in der Umsetzung fest, dass diese Methoden eine Entlastung im Alltag sind. Sie wenden allgemein weniger Kraft auf, sind körperlich nicht so erschöpft und belastet. Zudem lernen sie, unter anderem auch Impulsgeber zu sein, weil ihr Gegenüber es nicht alleine kann.“